Seit fast 20 Jahren berichte ich über organisierte und Rituelle Gewalt. Dabei habe ich mich mit vielen ethischen und handwerklich-journalistischen Fragen intensiv beschäftigt und ein paar persönliche Antworten hier aufgeschrieben.

„Das muss an die Öffentlichkeit!“

Journalistische Arbeit zu organisierter und Ritueller Gewalt

Schilderungen extremer Gewalt machen uns fassungslos. Was Menschen anderen Menschen antun können, schockiert, macht Angst und macht wütend.

Nun sind Fassungslosigkeit, Schock, Angst und Wut aber traditionell keine guten Ratgeber – schon gar nicht bei der journalistischen Arbeit zu organisierter Ritueller Gewalt (ORG) [1]. Wer zu diesem Thema recherchiert und berichtet, braucht

  • einen klaren Kopf,
  • besonnenes Abwägen,
  • viel Zeit und Ruhe bei Gesprächen und Recherchen,
  • Genauigkeit und
  • eine klare Unterscheidung zwischen belegbaren Fakten und Meinungen / Erinnerungen.

Meine erste Begegnung mit dem Thema Rituelle Gewalt war der Film „Höllenleben“ in der ARD, Dezember 2001, inzwischen bei Youtube. Ich war zufällig reingezappt und arbeitete damals als Freie Journalistin für den WDR im Studio Bielefeld, in dessen Sendegebiet die Tatorte liegen, von denen in „Höllenleben“ berichtet wird. Darum war klar: Das Thema mussten wir weiter verfolgen. Zwei Wochen später saß ich mit einer anderen freien Kollegin in ihrem Wohnzimmer, und wir überlegten, wie wir vorgehen wollten. Es gab polizeiliche Ermittlungen zu den geschilderten Taten, und wir wollten das weiter begleiten. Intuitiv stellten wir Regeln für uns auf:

  1. Wir werden nicht selbst ermitteln, wir graben nicht im Wald, verfolgen keine Leute. Aber wir wollen so viel wissen, dass wir die Polizei darauf hinweisen können, wenn sie Spuren nicht nachgeht.
  2. Wir recherchieren nur dann zu Fällen, wenn die Betroffenen, die „Opfer“, einverstanden sind. Wir wollen niemanden, der/die so etwas erlebt hat, zusätzlich verletzen oder unter Druck setzen.
  3. Jede von uns kann jederzeit aufhören, wenn es ihr zu viel wird oder zu nahe geht.

Von diesen ersten Regeln, die wir aufstellten, als wir noch kaum eine Ahnung hatten, was uns in den kommenden Jahren begegnen und erwarten würde, haben wir uns gut getragen gefühlt.

Achte auf Dich selbst, kenne Deine privaten und beruflichen, professionellen Grenzen, behalte Deine Aufgabe/Rolle im Blick und geh sorgsam mit Deinen Informantinnen und Informanten um. Wann immer es Turbulenzen gab (abgesagte Termine, Recherche-Löcher, Ärger mit Redaktionen, eigene Zweifel an unserer Arbeit, Angriffe von außen auf die Berichterstattung usw.) haben uns diese Sätze wie Leitplanken geholfen, Entscheidungen zu treffen und unseren roten Faden wiederzufinden. Irrungen und Wirrungen, die viele Kolleginnen und Kollegen erleben, würde ich als Lernkurven beschreiben:

Lernkurve 1: Du bist nicht der/die erste, der/die berichtet!

„Darüber weiß niemand Bescheid, darüber muss berichtet werden, das darf nicht im Verborgenen bleiben“, ist ein Impuls, den wohl alle kennen, die das erste Mal mit ORG zu tun haben. Das sagen uns unsere innere Stimme, die Redaktionsleitung oder die Therapeutin und deren Klientin, die an uns herantreten mit dem Wunsch nach Berichterstattung. Denn wenn es erst bekannt wäre, würden die Taten auch verhindert, ist die Hoffnung, die da mitschwingt.

Aber wenn ich mir heute mein Bücherregal und meine Linksammlungen anschaue, muss ich sagen: Das gilt schon lange nicht mehr. Es gibt unzählige Bücher, Websites, Artikel, Filme und Radiosendungen seit Ende der 1980er Jahre, die speziell Rituelle Gewalt zum Thema machen. Seit einigen Jahren sprechen Betroffene selbst über ihre Erfahrungen, ohne Journalismus oder Medien als Vermittler: Sie bloggen, podcasten, schreiben Bücher im Selbstverlag oder eröffnen Youtube-Kanäle. Alle können „es“ wissen. Extreme organisierte Gewalt ist nicht geheim. Aber es ist auch nicht unbedingt alles „wahr“ (über den Wahrheitsbegriff kann man lange streiten), was veröffentlicht wird. Und nicht alles, was bekannt wird, wird ernst genommen.

Die Konsequenz: Journalistinnen und Journalisten müssen nicht immer mehr Artikel über das Gleiche schreiben, vor allem nicht nur das Phänomen beschreiben und den Schrecken wiederholen, sondern ihr Handwerk einbringen. Sie müssen systematisch recherchieren, alle Presserechte und Quellen nutzen, gewichten und ihre Wächter*innenfunktion wahrnehmen. Denn nur diese Wächter*innenfunktion kann auch zu Veränderungen führen: Indem Medienschaffende den Verantwortlichen auf die Finger gucken, was gegen organisierte Gewaltstrukturen getan und wie Opfern geholfen wird, können sie Veränderungen anstoßen.

Was fehlt, sind Berichte über das Überleben, die Stärke und die Erfahrungen, nicht über „zerstörte Seelen, die ein Leben lang leiden und sich niemals erholen“. Das ist ein schlimmes, altes Klischee und schlicht falsch. Forschung und Hilfsangebote entwickeln sich stetig weiter – wenn auch langsam und in zu geringer Anzahl. Es gilt, solche Auswege aufzuzeigen und wirksame Maßnahmen bekannt zu machen, damit andere davon profitieren können.

Lernkurve 2: Grundwissen über Trauma ist wichtig!

Die extreme, langanhaltende Gewalt, von der Betroffene berichten, hat Folgen. Darüber sollten auch Journalistinnen und Journalisten Bescheid wissen: Wie Erinnerungen funktionieren und wie in Therapien gearbeitet wird. Warum manche Menschen äußerlich abgeklärt über schlimme Gewalt berichten, während andere schon bei einer bestimmten Farbe oder einer triggernden Zahl zusammenzucken und nicht mehr weitersprechen können. Warum viele sich erst nach vielen Jahren an Taten erinnern können. Wie man sensible Interviews führt und wie man sich selbst als berichterstattender Mensch vor eigenen Ängsten und eigener Traumatisierung schützen kann.

Dazu gibt es international sehr viel Wissen, z.B. auf dartcenter.org, der Website einer US-amerikanischen Stiftung zu Journalismus und Trauma. Diese Materialien sind überwiegend auf Englisch (Ein paar Deutsche Texte werden hier zusammengefasst.) und es gibt vereinzelte Tagungen oder traumasensibilisierende Schulungen für Journalistinnen und Journalisten in Sendern und Medienhäusern.

Der beste Tipp ist: Tauschen Sie sich mit erfahrenen Kolleginnen und Kollegen aus. Ein Grundlagentext der Journalistin Ulla Fröhling hat nichts von seiner Aktualität verloren: „Sie sehen aber schlecht aus!“, ursprünglich erschienen im message Magazin 3/2006, überarbeitet 2011 (am Ende des Artikel-Textes gibt Ulla Fröhling viele praktische Tipps ab Seite 7).

Und nicht nur unsere Informantinnen und Informanten brauchen unsere Sensibilität, sondern auch unser Publikum. Organisierte Rituelle Gewalt enthält so viel Schreckliches, dass wir es nicht auch noch verstärken sollten. Bilder von Flammen und Kreuzen, düstere Musik, Nebel auf Friedhöfen oder eine unheimliche, grusel-verstärkende Sprache sollten bei diesem Thema Tabu sein. Deshalb finden Sie auch nichts dergleichen über diesem Artikel – es gibt einfach keine guten Bilder für dieses Thema.

Lernkurve 3: Üb Dich in Verlässlichkeit und Ehrlichkeit!

Menschen, die in organisierten Strukturen misshandelt und ausgebeutet wurden und/oder werden, haben vor allem Bindungstraumata erlebt. Sie sind betrogen, belogen und ausgenutzt worden. Andere Menschen haben von ihrem Leiden profitiert, Misstrauen wurde gezielt geschürt und immer wieder bestätigt – denn das schützt die Täter. Wer niemandem vertraut, sucht auch nicht nach Hilfe oder holt die Polizei.

Dieses Wissen über Traumafolgen hat große Auswirkungen auf die journalistische Arbeit. Wie sollen diese Menschen uns vertrauen, dass wir ihre Berichte nicht wieder verfälschen, unser eigenes Süppchen damit kochen? Dabei sind wir aus unserer Profession heraus nicht ihre Freunde und Verbündeten: Wir müssen Fakten prüfen, skeptisch bleiben, die Gegenseite befragen, nach Indizien suchen, die einen Bericht belegen oder erschüttern. Das ist für viele Betroffene schlecht auszuhalten, und sie wünschen sich etwas völlig anderes von uns.

Mein Ausweg aus diesem Dilemma: Ehrlich bleiben. Ich frage früh, welche Erwartungen an mich gerichtet werden, und erkläre, was ich leisten kann. Ich teile mit, wenn sich Bedingungen ändern und arbeite so transparent wie möglich. Ich bringe viel Zeit mit, um geduldig zu warten, bis jemand gut mit mir zusammen arbeiten kann. Ich lasse mich auf Orte und Begleitpersonen ein, soweit es mir möglich ist. Ich frage, was die Personen brauchen, um gut mit mir zu arbeiten, und mache möglich, was geht. Ich verspreche nichts, was ich nicht halten kann. Das musste ich (teilweise schmerzhaft) lernen und habe im Laufe der Zeit auch viele Fehler gemacht. Ich arbeite weiter daran, weil ich glaube, dass beide Seiten sehr von solchen Regeln profitieren. Meine Erfahrung ist: Selbst wenn ich Wünsche absage, kommt meistens Dankbarkeit für die klare Kommunikation zurück. Eine „Hinhaltetaktik“ kann triggern und verletzen.

Aber ja, das bedeutet im Ernstfall auch konsequent: Hin und wieder muss ich geleistete Arbeit in den Papierkorb werfen, weil die Betroffenen mittendrin ihre Zusammenarbeit mit mir aufkündigen. Das gehört leider dazu.

Lernkurve 4: Die eigene Rolle

Berichte über organisierte und Rituelle Gewalt und Folter sind nicht „irgendein Thema“. Es erreicht uns auch als Berichterstatter*innen persönlich. Die Recherchen verändern unser Weltbild, erschüttern auch unser eigenes Vertrauen in Menschen und stellen uns in vielerlei Hinsicht auf die Probe.

„Die Menschen, über die ich berichte, gehören nachher zu meinem Leben“, sagt Gregor Sonderegger vom Schweizer Fernsehen immer in Seminaren, die wir zusammen geben. Gleichzeitig sind wir Medienleute aber keine Therapeut*innen, keine Beratungs-Fachkräfte, keine Sozialarbeiter*innen, keine Anwält*innen und keine Polizei. Gut, wir brauchen ein bisschen was von all diesen Professionen, müssen Fakten prüfen oder Hilfesysteme kennen und verstehen. Aber wir haben nicht deren professionelle Ausbildung, Berechtigung, Arbeitsmittel oder Autorität.

Die Situationen, in denen uns Menschen aus organisierten, rituellen Strukturen begegnen, sind immer dramatisch und potenziell lebensbedrohlich. Das müssen wir beachten durch besondere Gedanken und Maßnahmen zu Informant*innenschutz und Anonymisierung.

Aber bevor wir eine Panik, mit der uns dieses Thema womöglich konfrontiert, übernehmen, können wir auch anders darauf schauen: Die Menschen haben es bis hierher, bis zu dieser Begegnung, ohne uns geschafft. Was wir als Journalistinnen und Journalisten einbringen können, ist Realismus, Faktentreue, Klarheit, Verlässlichkeit und das Signal: „Ich sehe Dich und schaue mir Deine Geschichte an, berichte wahrscheinlich sogar darüber und finde angemessene Worte bzw. Bilder dafür.“ Das ist schon sehr viel.

Fußnoten:

[1] Der Begriff „organisierte und Rituelle Gewalt“ setzt sich in dieser Kombination in den letzten Jahren durch, insbesondere, weil das Bundesfamilienministerium dazu ein Expert.innenpapier herausgegeben hat, in dem dieser Begriff geprägt wurde. Definitionen finden Sie hier. Ich schreibe dabei Rituell immer noch groß, weil es sehr spezifische Folgen insbesondere für die Betroffenen hat, wenn Gewalttaten in religiösem oder spirituellem Kontext verübt werden, sei es als Rechtfertigung, als Motivation, als Begründung oder als Show. Es hat Folgen z.B. auch für die Strafverfolgung – ein paar Gedanken dazu habe ich hier aufgeschrieben.