Ein beeindruckender Band von über 500 (!) Seiten dokumentiert die Kinderschutztagung „Aufbruch – Hilfsprozesse neu gestalten“ von den Kinderschutz-Zentren aus dem September 2012. Auch ich habe meinen Workshop dort als Artikel zusammengefasst beigesteuert. Lesen Sie ab Seite 277 „Missbrauchen die Medien? Plädoyer für mehr Sensibilität im Journalismus“. (Homepage und Bestelladresse hier)
Leseprobe (Copyrightangaben siehe unten):
Die Berichterstattung über Gewalt und Verbrechen ist eine knifflige Sache. Ein Verbrechen – sei es Mord, Überfall, sexueller Missbrauch – ist ein schwerer Eingriff in die persönliche Unversehrtheit eines anderen Menschen. Dieser Eingriff ist für diesen Menschen, für das Opfer eines solchen Verbrechens, etwas sehr Privates und Intimes. Gleichzeitig ist ein solcher Eingriff aber auch eine öffentliche Angelegenheit, denn die Gesellschaft hat die Aufgabe, ihre Mitglieder davor zu schützen. Aus diesem Gedanken heraus gibt es Polizei, Gerichte, Gesetze und Gefängnisse. Darum hat, wann immer Verbrechen passieren, die Öffentlichkeit ein Recht darauf, das zu erfahren.
Die Kernfrage zum Thema Gewaltberichterstattung ist also nicht das „ob“, sondern das „wie“. Wie schafft man es, so zu berichten, dass Verbrechens-Opfer ihre Würde nicht verlieren und mutmaßliche Täter nicht vorverurteilt werden? Dass Berichte der Prävention dienen, und nicht der Panikmache? Das ist ein schmaler Grat, den ich Ihnen näher beschreiben will.
Verbrechen und Gewalt lösen starke Gefühle aus: Angst, Mitleid, Rache, Wut, Abscheu, Verzweiflung, Schmerzen, Panik, Scham. Nicht nur bei den direkt Betroffenen, sondern auch bei denen, die „nur“ davon hören oder lesen. Gleichzeitig gibt es kaum eine spannendere Geschichte als das urtypische „Verbrechen – Fahndung – Täter gefangen“-Räuber-und-Gendarm-Spiel. Die Faszination ist ungebrochen hoch. Im Englischen gibt es ein eigenes Genre dafür, die so genannten „Whodunnit“-Storys – „Wer hat es getan“-Geschichten. Warum gibt es Millionen von diesen typischen Mörder-Gesucht-Krimis auf dem Markt? Weil sie begeistert gelesen werden. Verbrechen und Gewalt und die Suche nach der gerechten Gegenmacht sorgen für Schlagzeilen und steigern die Auflage. Ein Mord als Aufmacher einer Sendung garantiert die Quote. „Sensationslust“ ist das böse Wort dafür. Vielleicht ist es aber auch „Empathie“? Empathie ist kurz gesagt so etwas wie Mitfühlen, was etwas anderes ist als Mitleid. Wir fühlen mit den Beteiligten an einem Verbrechen (Opfer, Eltern, Ermittler(innen), manchmal auch den Täter(innen) und identifizieren uns mit ihnen – egal, ob die Geschichten in der Zeitung oder im Krimi stehen.
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Mit der Berichterstattung über Gewalt zeichnen wir häufig ein Bild von Opfern, die sich nicht wehren konnten und für die es schlecht ausgeht. Wir Journalist(inn)en wollen damit im besten Fall aufrütteln, bewegen, motivieren, etwas gegen diese Verbrechen zu tun. Und gleichzeitig konstruieren wir eine Welt, in der am Ende steht: „Es ist aussichtslos. Die Täter sind so brutal und skrupellos, so entmenschlicht, dass es kein Entrinnen gibt, wenn man ihnen erst mal in die Hände gefallen ist.“
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Wenn ich Geschichten erzählen will, die Mut machen gegen Gewalt, die Menschen motivieren sollen, hinzuschauen und sich und andere zu schützen, dann muss ich Stärken betonen. „Was hat Ihnen geholfen, die Situation zu überstehen?“ Ich muss mein Gegenüber gut und respektvoll behandeln, mich sorgfältig auf die Geschichte vorbereiten, die Möglichkeit zu Stoppsignalen einräumen und dem Menschen die Möglichkeit geben, die Kontrolle über die sehr ungewohnte Interview-Situation zu behalten. Ich muss Zeit mitbringen und einen guten Zeitpunkt wählen – gut für mein Gegenüber, nicht für meinen Sendetermin. Nur dann bekomme ich auch ein gutes Interview.
Die Amerikanische Dart-Stiftung widmet sich dem Thema Trauma und Journalismus, inzwischen auch mit Ablegern in Europa, einem Büro in London und einem Büro in Deutschland für den gesamten deutschsprachigen Raum (Nachtrag 2015: Das deutsche Büro wurden inzwischen wieder aufgelöst). Beim Dart Center habe ich in diversen Seminaren gelernt, dass falsche Fragen nicht nur unhöflich, verletzend, tabulos oder unverschämt und missachtend sein können, sondern dass wir damit Menschen psychisch und körperlich schwer verletzen können. Der Begriff dafür ist Retraumatisierung.
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Die öffentliche, gesellschaftliche Anerkennung, dass ein Unrecht geschehen ist, ist unter Therapeuten längst ein anerkannter Aspekt von Heilung. Manche Menschen, die Gewalt erlebt haben, erstatten nur deshalb Anzeige vor Gericht. Nicht, weil sie viel Hoffnung haben, dass die Täter nachhaltig verurteilt werden. Sondern sie erstatteten Anzeige aus der Motivation heraus, dass der Staat und seine Organe wissen und offiziell, öffentlich anerkennen sollen, dass ihnen ein Unrecht widerfahren ist. Medienberichterstattung kann auch hier einen wichtigen Beitrag leisten, wenn sie verantwortungsvoll gemacht wird.
Journalisten haben eine große Verantwortung. Für sich, ihr Team, ihre Interviewpartnerinnen und –partner, für das Publikum. Und sie haben eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe: Dass nicht geschwiegen wird bei Unrecht und Gewalt.
Copyright: Claudia Fischer, Zitate und Verlinkung bitte nur mit ordentlicher Quellenangabe! (Fischer, Claudia: Artikel „Missbrauchen die Medien?“ in: „Aufbruch – Hilfsprozesse gemeinsam neu gestalten“, Hrsg.: Die Kinderschutzzentren, Juni 2013)